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4. Fastensonntag

Thema: Körperlich und geistig Blinde
Lesg./Ev.: Joh 9,1-41
gehalten am 14.03.99 10:30 Uhr in Eschenbach
von Eberhard Gottsmann, OStR

Lesung / Evangelium:

Joh 9:1 Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. 2 Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Ober haben seine Eltern gesündigt, so daß er blind geboren wurde? 3 Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden. 4 Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat; es kommt die Nacht, in der niemand mehr etwas tun kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6 Als er dies gesagt hatte, spuckte er auf die Erde; dann machte er mit dem Speichel einen Teig, strich ihn dem Blinden auf die Augen 7 und sagte zu ihm: Geh und wasch dich in dem Teich Schiloach! Schiloach heißt übersetzt: Der Gesandte. Der Mann ging fort und wusch sich. Und als er zurückkam, konnte er sehen.
8 Die Nachbarn und andere, die ihn früher als Bettler gesehen hatten, sagten: Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte? 9 Einige sagten: Er ist es. Andere meinten: Nein, er sieht ihm nur ähnlich. Er selbst aber sagte: Ich bin es. 10 Da fragten sie ihn: Wie sind deine Augen geöffnet worden? 11 Er antwortete: Der Mann, der Jesus heißt, machte einen Teig, bestrich damit meine Augen und sagte zu mir: Geh zum Schiloach, und wasch dich! Ich ging hin, wusch mich und konnte wieder sehen. 12 Sie fragten ihn: Wo ist er? Er sagte: Ich weiß es nicht. 13 Da brachten sie den Mann, der blind gewesen war, zu den Pharisäern.
14 Es war aber Sabbat an dem Tag, als Jesus den Teig gemacht und ihm die Augen geöffnet hatte.
15 Auch die Pharisäer fragten ihn, wie er sehend geworden sei. Der Mann antwortete ihnen: Er legte mir einen Teig auf die Augen; dann wusch ich mich, und jetzt kann ich sehen. 16 Einige der Pharisäer meinten: Dieser Mensch kann nicht von Gott sein, weil er den Sabbat nicht hält. Andere aber sagten: Wie kann ein Sünder solche Zeichen tun? So entstand eine Spaltung unter ihnen. 17 Da fragten sie den Blinden noch einmal: Was sagst du selbst über ihn? Er hat doch deine Augen geöffnet. Der Mann antwortete: Er ist ein Prophet. 18 Die Juden aber wollten nicht glauben, daß er blind gewesen und sehend geworden war. Daher riefen sie die Eltern des Geheilten 19 und fragten sie: Ist das euer Sohn, von dem ihr behauptet, daß er blind geboren wurde? Wie kommt es, daß er jetzt sehen kann? 20 Seine Eltern antworteten: Wir wissen, daß er unser Sohn ist und daß er blind geboren wurde. 21 Wie es kommt, daß er jetzt sehen kann, das wissen wir nicht. Und wer seine Augen geöffnet hat, das wissen wir auch nicht. Fragt doch ihn selbst, er ist alt genug und kann selbst für sich sprechen. 22 Das sagten seine Eltern, weil sie sich vor den Juden fürchteten; denn die Juden hatten schon beschlossen, jeden, der ihn als den Messias bekenne, aus der Synagoge auszustoßen. 23 Deswegen sagten seine Eltern: Er ist alt genug, fragt doch ihn selbst.
24 Da riefen die Pharisäer den Mann, der blind gewesen war, zum zweitenmal und sagten zu ihm: Gib Gott die Ehre! Wir wissen, daß dieser Mensch ein Sünder ist. 25 Er antwortete: Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht. Nur das eine weiß ich, daß ich blind war und jetzt sehen kann. 26 Sie fragten ihn: Was hat er mit dir gemacht? Wie hat er deine Augen geöffnet? 27 Er antwortete ihnen: Ich habe es euch bereits gesagt, aber ihr habt nicht gehört. Warum wollt ihr es noch einmal hören? Wollt auch ihr seine Jünger werden? 28 Da beschimpften sie ihn: Du bist ein Jünger dieses Menschen; wir aber sind Jünger des Mose. 29 Wir wissen, daß zu Mose Gott gesprochen hat; aber von dem da wissen wir nicht, woher er kommt. 30 Der Mann antwortete ihnen: Darin liegt ja das Erstaunliche, daß ihr nicht wißt, woher er kommt; dabei hat er doch meine Augen geöffnet. 31 Wir wissen, daß Gott einen Sünder nicht erhört; wer aber Gott fürchtet und seinen Willen tut, den erhört er. 32 Noch nie hat man gehört, daß jemand die Augen eines Blindgeborenen geöffnet hat. 33 Wenn dieser Mensch nicht von Gott wäre, dann hätte er gewiß nichts ausrichten können. 34 Sie entgegneten ihm: Du bist ganz und gar in Sünden geboren, und du willst uns belehren? Und sie stießen ihn hinaus.
35 Jesus hörte, daß sie ihn hinausgestoßen hatten, und als er ihn traf, sagte er zu ihm: Glaubst du an den Menschensohn? 36 Der Mann antwortete: Wer ist das, Herr? (Sag es mir,) damit ich an ihn glaube. 37 Jesus sagte zu ihm: Du siehst ihn vor dir; er, der mit dir redet, ist es. 38 Er aber sagte: Ich glaube, Herr! Und er warf sich vor ihm nieder.
39 Da sprach Jesus: Um zu richten, bin ich in diese Welt gekommen: damit die Blinden sehend und die Sehenden blind werden. 40 Einige Pharisäer, die bei ihm waren, hörten dies. Und sie fragten ihn: Sind etwa auch wir blind? 41 Jesus antwortete ihnen: Wenn ihr blind wärt, hättet ihr keine Sünde. Jetzt aber sagt ihr: Wir sehen. Darum bleibt eure Sünde.

Predigt:

Liebe Christen!

Zur Zeit Jesu gab es bei den Juden eine verbreitete Vorstellung: wenn irgend jemand krank war, arm war oder ein besonders schweres Los zu tragen hatte, dann brachte man das sofort mit einer Sünde in Verbindung, die der Betreffende begangen haben mußte. Denn nach dieser Meinung ist der Segen Gottes Ursache für Wohlergehen, Gesundheit und Reichtum - und ein Sünder hatte ja diese Hilfe Gottes verscherzt.

Was ist aber nun mit Menschen, die seit ihrer Geburt krank oder behindert sind? So ein Fall wird im heutigen Evangelium geschildert. Dann mußte halt das Leiden auf Sünden der Eltern zurückgehen!

Diese Denkvorstellung war im Alten Testament recht verbreitet: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern", so heißt es im 2. Buch Mose, und auch bei Jesaja und in einem Psalm finden wir ähnliche Gedanken. „Tun-Ergehens-Zusammenhang" nennt man in der Theologie dieses Denkmodell.

Obwohl man heute weiß, daß Sünden tatsächlich viele Generationen belasten können - so wirken sich z. B. Trunksucht und Geschlechtskrankheiten generationenlang aus - trotzdem würde man heutzutage nicht so ohne weiteres jedes Leiden auf Sünden zurückführen, und auch Jesus tut das nicht. Ihm geht es um Wichtigeres; er sagt: der Mann leidet, damit an ihm deutlich werde, was Gott vermag - und damit auch, wie er ist.

Wer der Meinung ist, daß alles Unglück eine Strafe Gottes sei, ist im Sinne Jesu ein wahrhaft Blinder, denn so jemand hält Gott für einen kleinlichen Paragraphenfuchser, einen Rächer und unversöhnlich Beleidigten - ganz nach menschlichem Muster.

Jesus dagegen sieht und zeigt Gott als Liebe in Person, „der es regnen läßt über Böse und Gerechte", also für alle ohne Ausnahme Leben und Heil will - für Sünder ganz besonders! -, also einen Gott des Erbarmens und der Menschenfreundlichkeit.

Die Wunder im Johannesevangelium dienen stets diesem Zweck: sie sind ein Zeichen der Macht und Herrlichkeit Gottes - und diese Herrlichkeit kommt besonders in seinem Erbarmen zum Ausdruck. Wer das nicht erkennen will, ist selbstverschuldet blind, verstockt, der lebt in der Finsternis.

Nun aber zu einer sonderbaren Stelle des Evangeliums: Jesus spuckt auf den Boden und macht einen Brei, den er auf die Augen des Blinden schmiert. Warum macht er das? Er hat doch schon oft ohne jedes Hilfsmittel geheilt; und - mit Verlaub gesagt - besonders appetitlich ist diese Handlung auch gerade nicht, auch wenn man in der Antike glaubte, daß Speichel eine heilende Wirkung habe.

Der Grund liegt woanders: es ist ja Sabbat, und am Sabbat sind alle Arbeiten verboten. Indem nun Jesus einen „Teig" macht, verstößt er bewußt und absichtlich gegen eine der 39 am Sabbat verbotenen Arbeiten!

Fast ein Witz in unseren Augen: diese Zeichenhandlung hat ja mit „Teigmachen" fast nur den Namen gemein. Aber wir können uns heute gar nicht mehr vorstellen, wie pingelig und tüftlerisch damals Schriftgelehrte sein konnten. „Wer am Sabbat eine Lampe löscht, um Licht zu sparen oder Öl oder den Docht, der macht sich strafbar." „Niemand darf am Sabbat Sandalen mit Nägeln tragen" (das Gewicht der Nägel hätte nämlich eine Last bedeutet). Niemand durfte sich am Sabbat die Nägel schneiden oder sich auch nur ein Haar ausreißen! Niemand durfte auch nur ein Wort niederschreiben (allenfalls noch einen einzigen Buchstaben), da auch Schreiben die Heiligkeit des Sabbats verletzte (viele Schüler sind heute noch dieser Meinung).

Daß bei solchen Meinungen die Herstellung eines - wenn auch symbolischen - Teiges Arbeit und damit Sabbatschändung bedeutete, das können wir uns da schon vorstellen.

Und es gab noch einen weiteren Grund, warum Jesus gegen das Gesetz verstieß: am Sabbat war ärztliche Hilfe nur bei Lebensgefahr erlaubt, und auch da nur, soweit notwendig! Ein Blindgeborener aber befindet sich nicht in Lebensgefahr - also übertrat Jesus auch hier das Sabbatgebot, indem er heilte.

Die Schriftgelehrten und Pharisäer suchten durch die Einhaltung dieser lächerlich pedantischen Vorschriften Gott zu ehren. Jesus dagegen sah darin ein Zeichen ihrer Heuchelei, sich vor Gott durch eigene Taten zu rechtfertigen. Hinter der scheinbaren Gesetzeserfüllung durchschaute Jesus ihre seelische Blindheit.

Noch schlimmer: die „Vertreter des Lehramtes" unterstellen Jesus, daß er nicht im Sinne Gottes handelt! Denn selbst wenn er noch so viel „Heil" wirkt, wenn er noch soviel Gutes tut - ein Gesetzesbrecher kann nicht auf der Seite Gottes stehen.

Und deshalb provozierte er diese engstirnigen Menschen durch die Sabbatheilung, indem er ihnen zweierlei deutlich machen wollte:

1. Der Mensch ist nicht für den Sabbat da, er ist nicht Sklave des Sabbats, der ohne Denken einfach zu gehorchen hat. Umgekehrt ist es: das Sabbatgebot - und auch jedes andere Gesetz - ist für den Menschen da, es ist eine Hilfe Gottes, ein Beweis seiner Fürsorge und Liebe. Und wenn die Einhaltung eines Sabbatgebotes - oder sonst eines Gesetzes - dem Menschen nicht wohltut, wenn sie sogar unmenschlich ist, dann kann selbst das göttlichste aller Gesetze nicht von Gott stammen. Wer das nicht sehen will, ist blind, und wenn er noch so gesunde Augen hat, selbst wenn er sich ständig auf ein Kirchenamt oder gar den Heiligen Geist beruft.

Und 2. zeigt Jesus, daß für Gott stets der Mensch im Vordergrund steht - vor allen Gesetzen, Regeln und Bräuchen - und dasselbe verlangt er auch von uns. Wenn daher jemand Hilfe braucht, dann gilt keine Ausrede. Weder ein Gottesdienst noch eine Gesetzesvorschrift darf ihn dann von seinem Tun abhalten!

Ich darf den Theologen Eugen Biser zitieren: „Finsternis [ich ergänze: und damit geistige Blindheit] ... entsteht überall dort, wo Menschen das Menschliche dem Institutionellen opfern und der Meinung sind, daß in der Entscheidung zwischen Institution, zwischen Gesetz und Mensch der Mensch geopfert werden müsse. Nein, sagt Jesus, der Mensch ist das eigentliche Ziel Gottes. Ihn sucht er mit seiner Liebe." [Zitatende]

Der wahre Gottesdienst besteht im Dienst am Menschen - so wie Jesus uns vorlebt - Sabbat hin - Sabbat her.

AMEN

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