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10. Jahressonntag 1999

Thema: Heilbar Kranke - unheilbar Gesunde
Mt 9,9-13
gehalten am 06.06.99 10:30 in Eschenbach
von Eberhard Gottsmann, OStR

Evangelium

Mt 9,9 Als Jesus weiterging, sah er einen Mann namens Matthäus am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach! Da stand Matthäus auf und folgte ihm.
10 Und als Jesus in seinem Haus beim Essen war, kamen viele Zöllner und Sünder und aßen zusammen mit ihm und seinen Jüngern. 11 Als die Pharisäer das sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen?
12 Er hörte es und sagte: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. 13 Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.

Predigt

Liebe Zuhörer!

War Jesus ein Hypnotiseur, ein Guru mit magischen Fähigkeiten? Der Anfang der heutigen Evangelienstelle läßt das fast vermuten.

Ein Privatunternehmer, der im Auftrag der Besatzungsmacht Steuern eintreibt und selbst sehr gut davon leben kann, läßt auf ein Wort Jesu hin alles liegen und stehen und beginnt ein völlig neues Leben.

Sie müssen sich das mal realistisch vorstellen: ein Guru spricht Sie an Ihrem Arbeitsplatz an und fordert sie auf, sofort zu kündigen und in seine Sekte einzutreten! Ich kann mir nicht vorstellen, daß er bei einem von uns Erfolg hätte.

Damals dürfte es nicht viel anders gewesen sein als heute, auch wenn uns diese Schriftstelle durch häufiges Hören so selbstverständlich erscheint.

Wenn der Evangelist wenigstens einen einleuchtenden Grund angeben würde - aber es heißt nur: „Folge mir nach!" - und: „Da stand Mattäus auf und folgte ihm."

Es gibt einen solchen Grund, wenngleich er uns nicht sofort in die Augen springt. Daher muß ich erst einige Vorbemerkungen machen, damit dieser Grund auch uns einleuchtet: und zwar über den Berufsstand der Zöllner und über die Bedeutung des Mahls in der jüdischen Antike.

Seit dem Jahr 63 vC ist Palästina fest in römischer Hand. Schuld daran sind die Juden selbst: infolge dauernder Streitigkeiten untereinander ruft man den Römer Pompeius als Schiedsrichter. Natürlich läßt sich der das nicht zweimal sagen; er rückt in Jerusalem ein, setzt einen Hohenpriester ein und unterstellt ganz Palästina dem Legaten von Syrien, also der römischen Verwaltung. Seit dieser Zeit zahlen die Juden Steuern und Zölle, und das nicht knapp. Den Tribut, also 10% des Einkommens und eine „Kopfsteuer", die für jeden Untertan gleich hoch ist, kassieren Prokuratoren wie Pontius Pilatus ein; daneben gibt es aber eine Unmenge anderer Steuern und Zölle, die im Auftrag der Römer von Privatunternehmen, eben den Zöllnern, erhoben werden. So werden an den Grenzen der Zollbezirke 2 1/2% des Warenwertes abgesahnt; dann gibt es beispielsweise die Versteigerungssteuer, die für Waren 1%, für Sklaven 4% ausmacht. Die Erbschaftssteuer beläuft sich auf 5%; daneben gibt es noch zahlreiche Spezialerhebungen und Strafgelder.

Sie können sich sicher vorstellen, daß diese Privatunternehmer nicht gerade geliebt wurden. Schließlich waren es Juden, die mit den Besatzern kollaborierten, die sich zudem am Vermögen der eigenen Landsleute bereicherten und ihre Forderungen mit feindlicher Militärhilfe durchsetzen konnten. Mit solchen Typen will man nichts zu tun haben; sie sind aus der Synagoge ausgeschlossen und jeder Kontakt mit ihnen gilt für einen echten Gläubigen als sündhaft.

Nun könnte man ja verstehen, wenn Jesus solchen Outsidern ins Gewissen reden würde. Aber kein Wort davon: keine Moralpredigt, kein Vorwurf - nichts! Im Gegenteil: er läßt sich von ihnen zum Essen einladen! Überlegen Sie mal: das ist ja, wie wenn unser Bischof die Einladung zu einem Zuhälter- oder Maffia-Bankett annehmen würde! Ist Jesus denn verrückt geworden?

Oder sagen wir es noch viel gewagter: nachdem Jesus mit seinen Worten und seinem Verhalten im Geiste Gottes, als „Sohn Gottes" handelt, also die Einstellung Gottes wiederspiegelt, muß man fragen: Ist Gott denn verrückt geworden?

Dieser Gedanke muß uns fast zwangsläufig kommen, wenn wir gewohnt sind, eine Sache zu Ende zu denken. Nur: gerade solche Gedanken zeigen, daß wir den „Neuen Weg", die Botschaft Jesu, immer noch nicht verstanden haben. Gott ist „verrückt" - wenn man den Ausdruck einmal wörtlich nimmt. Nichts steht bei ihm an der Stelle, wo wir es erwarten; nichts, aber auch gar nichts entspricht bei ihm unserem gewohnten Vergeltungs- und Rachedenken, das uns so sehr prägt.

„Kapiert es doch endlich:" sagt Jesus, „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer! Zuwendung zum Mitmenschen will ich, nicht perfekte liturgische Vorschriften; Menschlichkeit will ich, nicht Paragraphen; Her-richten will ich, nicht hin-richten; retten will ich, nicht verdammen!"

Zurück zu unserem Zöllner Mattäus, zurück zu den anderen Zöllnern und Sündern, die sich in Scharen um Jesus versammeln. Diese Leute kannten es bisher nicht anders: nach dem jüdischen Gesetz, nach dem Moralbewußtsein aller anständigen Leute sind sie Ausgestoßene, Verachtete, Verdammte. Sie spüren im Innersten: wir haben es verdient, so behandelt zu werden, denn wir sind Schuldige, Sünder. Wir sind nicht in Ordnung, wir sind nicht O.K. Und wenn uns schon die Menschen so verachten, wie sehr muß uns dann erst Gott verdammen!

Und nun geht einer auf sie zu: er schaut sie an, er hört sie an, er redet sie an, ja, er berührt sie sogar oder läßt sich von ihnen berühren. Sie spüren: dieser Jesus mag mich - ohne Wenn und Aber, ohne moralische Vorbehalte und ohne Verurteilung! Er mag mich so, wie ich bin, mit allen Fehlern, mit aller Sünde und Schuld! Und noch mehr: er versichert er mir, daß mich auch Gott so annimmt, so akzeptiert, wie ich bin!

Wenn das so ist, dann muß ich nicht mehr deprimiert sein; ich muß mich nicht mehr selbst verdammen - auch ich kann mich wieder mögen!

Noch mehr: dieser Jesus verteidigt mich auch noch vor den „anständigen Menschen", er greift sie sogar wegen ihrer Unbarmherzigkeit an!

Das, was er mir sagt, was er mir zeigt, das macht mich wieder heil; jetzt kann ich aufatmen und gesund werden!

Genau das, was diese Zöllner, Sünder, Sünderinnen, also die „heilbar Kranken" gesund macht, provoziert nun die „Anständigen", die „guten Juden" (und die „guten Christen"), sozusagen die „unheilbar Gesunden".

Verständlich ist es ja: wenn Jesus (und damit Gott) die Sünder gar nicht verurteilt, dann ist das ein Angriff auf alle Bemühungen, „gerecht" zu sein, also nach dem Gesetz zu leben! „Mein Leben lang habe ich mich bemüht, die Gebote zu erfüllen; ich bin jeden Sonn- und Feiertag in meine Kirche gegangen; ich habe niemanden übervorteilt oder betrogen - im Gegenteil, gespendet habe ich sogar! Und jetzt muß ich erfahren, daß auch diese Gauner, diese Übeltäter und Verbrecher von Gott Geliebte sind! Lieber Gott, du erlaubst schon, daß ich empört bin - zu Recht empört bin!"

Und schon habe ich mich verraten, jetzt ist es heraus: wenn ich auch fromm, anständig, gesetzestreu, „ein guter Christ" bin - so bin ich doch im Grunde meines Herzens hart, unmenschlich, lieblos, unbarmherzig. Und das Schlimmste daran: ich merke gar nicht, daß diese Unbarmherzigkeit die größte aller Sünden ist! Und deshalb ist diese Sünde auch die einzige, die nicht vergeben werden kann - eben weil ich sie gar nicht als Schuld erkenne! Erst dann, wenn ich meine Unbarmherzigkeit als Schuld, als böse erkenne, dann bin auch ich geheilt.

Erinnern Sie sich an den Bruder des „verlorenen Sohnes", der sich geweigert hat, am Freudenmahl des „guten Vaters" teilzunehmen, da der „sündige Sohn" zurückgekehrt ist? Könnte es sein, daß ich dieser Bruder bin?

AMEN

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