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Abiturschluß-Gottesdienst

Thema: Der Rhabarber-Effekt
Lesg./Ev.: Lk 15,11-32
gehalten am 25.06.99 08:30h Pfarrkirche ESB
von Eberhard Gottsmann, OStR

 

Evangelium (Lk 15,11-32)

Jesus erzählt folgende Geschichte: Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen sagte zu seinem Vater: Vater, gib mir den Vermögensanteil, der mir zusteht. Da teilte der Vater auf, was er zum Leben hatte.Nach wenigen Tagen - als er alles beisammen hatte - reiste der jüngere Sohn in ein fernes Land. Dort führte er ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Vermögen.Als er alles durchgebracht hatte, kam eine schwere Hungersnot über jenes Land, und es ging ihm sehr schlecht. Da ging er zu einem Bürger des Landes und drängte sich ihm auf; der schickte ihn auf seine Felder zum Schweinehüten. Und er gierte danach, seinen Bauch mit den mit den Schoten vollzustopfen, die die Schweine fraßen - aber keiner gab sie ihm.Da kam er zu sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot in Hülle und Fülle, und ich komme hier vor Hunger um. Aufstehen will ich und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater! ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden; mach mich zu einem deiner Tagelöhner.Und er stand auf und ging zu seinem Vater. Als er noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater. Und es wurde ihm weh ums Herz. Und er lief, fiel ihm um den Hals und streichelte ihn. 21 Da sagte der Sohn zu ihm: Vater! ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.22 Der Vater aber sagte zu seinen Knechten: Schnell! Holt das allerbeste Gewand und zieht es ihm an. Steckt ihm einen Ring an die Hand und Sandalen an die Füße. 23 Bringt das Mastkalb her, und schlachtet es; wir wollen essen und fröhlich sein. 24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder aufgelebt; er war verloren und ist wiedergefunden. Und so begannen sie, fröhlich zu sein.25 Sein älterer Sohn war unterdessen auf dem Feld. Als er heimging und in die Nähe des Hauses kam, hörte er Musik und Reigenlieder.26 Da rief er einen der Knechte herbei und erkundigte sich, was das bedeuten solle. 27 Der sprach zu ihm: Dein Bruder ist da! Und dein Vater hat das Mastkalb schlachten lassen, weil er ihn heil und gesund zurückbekommen hat. 28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen.Sein Vater aber kam heraus und redete ihm gut zu. 29 Doch der antwortete seinem Vater: So viele Jahre schon mache ich dir den Knecht, und nie habe ich eine Weisung von dir übertreten. Und du hast mir nie auch nur ein Böcklein geschenkt, damit ich mit meinen Freunden hätte fröhlich sein können. 30 Als aber der da kam - dein Sohn, der das, was du zum Leben hattest, mit Huren aufgefressen hat - da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet.31 Der Vater aber sprach zu ihm: Kind, du bist doch immer bei mir, und all das Meine ist dein. 32 Aber jetzt müssen wir doch fröhlich sein und uns freuen, denn dieser, dein Bruder, war tot und ist wieder aufgelebt; er war verloren und ist gefunden worden.

Predigt

Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten, liebe Eltern, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Johnny war begeistert. Eines Morgens sieht er nämlich, wie im Nachbarhof ein junger Ziegenbock grast - und so ein lebendiges Spielzeug ist das Höchste für einen vierjährigen Jungen wie Johnny! Sie können sich denken, daß er sich schnell mit Billy anfreundet - Billy - so heißt der Bock nämlich.

Jeden Morgen rupft er ein wenig Gras und Salatblätter ab und bringt sie Billy zum Frühstück. Die Freundschaft wird allmählich so eng, daß Johnny sich stundenlang bei seinem Liebling aufhält.

Da kommt Johnny eines Tages auf die Idee, daß Billy etwas Abwechslung in seinem Speiseplan brauchen könnte. Johnny hat auch schon eine Idee: er liebt Rhabarber in allen Variationen. Rhabarberkuchen, Rhaberkompott, Rhabarbersaft. Und so marschiert er mit einer Stange Rhabarber los und hält sie seinem Freund erwartungsvoll vor die Nase. Billy knabbert ein wenig - stellt fest, daß er das saure Zeug nicht mag und schiebt den Rhabarber zur Seite. Johnny ist verdutzt. Er greift Billy bei einem seiner Hörner und versucht, ihn dazu zu bringen, den Rhabarber zu fressen. Dieses Mal stößt Billy seinen Freund weg, zunächst ganz sanft, aber als Johnny nicht aufgeben will, stößt er so fest zu, daß Johnny stolpert und auf seinen Südpol fällt.

Ein wütender Blick - Johnny steht auf und geht wortlos nach Hause. Nie wieder wird er diesen undankbaren Kerl besuchen. Ein für allemal ist es mit der Freundschaft aus - weil Billy ihn zurückgewiesen hat!

Liebe Zuhörer!

Bevor wir mitleidsvoll über diesen Knirps lächeln, sollten wir uns darüber klar werden, daß wir uns im Grunde nicht allzusehr von ihm unterscheiden. Jeder von uns hat so eine Rhabarbervorliebe - oder sagen wir es weniger bildhaft - bestimmte Vorstellungen, die er für alleinseligmachend hält, bestimmte Erwartungen, die er als absolut legitim erachtet, bestimmte Denkschablonen, die er als die einzig wahren ansieht. Das wäre ja nicht weiter schlimm, wenn man sich deren Subjektivität bewußt wäre. Aber so ist es leider nicht: wir neigen von Natur aus dazu, diese Raster auf andere zu projizieren; noch schlimmer: wir setzen wie selbstverständlich voraus, daß auch die anderen Menschen ähnliches denken, wollen oder fühlen müssen. Am kräftigsten macht sich diese Einstellung im Verhalten gegenüber den nächsten Angehörigen bemerkbar.

Natürlich sind bei einer solchen Haltung Enttäuschungen unausbleiblich; Ent-Täuschung heißt ja: es wird offensichtlich, daß unsere Erwartungen und Vorstellungen nur eine Täuschung waren, also nicht der Wirklichkeit entsprochen haben. Ich möchte Ihnen - Eltern wie Abiturienten - jetzt bestimmt nicht die Feststimmung verderben, wenn ich Sie auf die vielen Enttäuschungen während der vergangenen 13, 14 Jahre aufmerksam mache. Aber könnte es nicht sein, daß wir dabei fast immer die selbe Ursache finden könnten, nämlich den „Rhabarbereffekt"?

Natürlich gehört zu jeder Erziehung, Kinder in eine bestimmte Richtung zu führen, die nämlich, die man als Vater, Mutter oder Lehrer für die Beste hält. Verantwortungsgefühl, Altruismus und Selbständigkeit entstehen nun mal nicht von selbst.

Und natürlich gehört auch zu jeder Entwicklung der Kinder, gegen Beschränkungen aufzubegehren, Grenzen auszuloten und Freiheit auszuprobieren.

Aber darum geht es mir heute gar nicht. Ich gehe mal davon aus, daß ihr als junge Menschen mit 19 oder 20 Jahren bereits selbst wißt, was recht und billig ist. Mir geht es vielmehr um einen psychischen Mechanismus, der schon unendlich viel angerichtet hat und immer noch anrichtet: „Du mußt so sein, wie ich dich haben möchte; andernfalls will ich von dir nichts mehr wissen!"

Schauen wir uns mal die Geschichte näher an, die Jesus heute im Evangelium erzählt. Ein junger Mann - allem Anschein nach in geordneten Verhältnissen aufgewachsen - hat genug vom bisherigen Leben. Er hat es satt, dauernd vom Vater abhängig zu sein, seine Anweisungen entgegennehmen zu müssen, bei jedem Dreck fragen zu müssen. Endlich mal weg von dieser Bevormundung, endlich mal die Freiheit, das Leben genießen!

Den Vater wird es wie ein Schock getroffen haben, als ihm der Sohn sein Vorhaben eröffnet. Was hat er wohl in seiner Erziehung falsch gemacht? Hat er ihr vielleicht zu sehr eingeengt? Hat er ihm denn nicht alles geboten, was ein Vater nur seinem Sohn bieten kann? Hat er ihm nicht die Grundlagen des Glaubens vermittelt, wie Ehrfurcht vor Gott und den Eltern, sowie Verantwortungs- und Pflichtgefühl gegenüber den Mitmenschen?

Ebenso dürfte ihn verletzt haben, daß sein Sohn von ihm bereits jetzt das Erbteil fordert. Fordert! Unverschämter geht es wohl nicht mehr. Jahrelang hat der Vater geblecht (wie auch heute noch Eltern blechen müssen, bis ihr Söhnchen oder Töchterchen endlich mal selbst Geld verdienen) - und nun das!

Das Erstaunliche: wir hören keinen Ton des Protestes vom Vater. Klaglos, ohne Vorwürfe rückt er den Anteil seines Vermögens heraus, den dieser undankbare Kerl nach seinem Tod ja sowieso bekommen hätte, und klaglos läßt er ihn gehen, obwohl er annehmen muß, daß die Sache schiefgeht. Im Ausland besteht ja so gut wie keine Chance, seine Glaubensvorschriften zu erfüllen - wie der Fortgang der Geschichte beweist.

Könnte man diesen Vater nicht als „verrückt" bezeichnen? Könnte man nicht auf gut bayrisch sagen: der ist gutmütig, fast ein Depp? Die Bibel möchte es anders verstanden wissen: der Vater liebt seinen Sohn. Von außen gesehen scheint das dasselbe zu sein. Und doch besteht zwischen „gutmütig" und „liebend" ein gewaltiger Unterschied. Ein gutmütiger Mensch ist schwach, er läßt mit sich alles machen - ein liebender Mensch aber hat die Stärke, dem anderen Freiheit zu lassen. Und dieser Vater liebt - in kaum nachzuvollziehender Weise! Er weiß: zur Freiheit gehört aber nun mal, daß man auch in die falsche Richtung geht, vielleicht sogar in die Katastrophe!

Da mit-leidend zusehen zu müssen, ohne einzugreifen zu dürfen, ohne manipulieren zu können, ohne Druck auszuüben - dazu gehört eine fast unnatürliche Stärke.

Der Vater im Gleichnis hat diese Stärke. Er weiß: jede Gewaltanwendung, jeder Druck ist Gift für die Liebe. Und so bleibt ihm nur die Hoffnung, daß der Sohn irgendwann mal zur Vernunft kommt und von sich aus - in Freiheit - zu ihm zurückkehrt.

Und er kommt zurück - um vieles gescheiter. Er hat die Abreibung gebraucht; er hat selbst erfahren müssen, daß es eine Sackgasse war, in die er sich vorwitzig begeben hat. Er hat auch erfahren müssen, daß Freiheit ohne Bindung, ohne Verantwortung, ohne Vernunft das Leben zerstören kann. Und noch etwas muß ihm klar geworden sein: das, was er damals so unverschämt gefordert hat, war in Wirklichkeit ein freiwilliges Geschenk des Vaters! Jetzt, da er reumütig zurückkommt, um überleben zu können, ist überhaupt nicht mehr von einer Forderung die Rede. Er kann nur bitten, wie ein Taglöhner aufgenommen zu werden, ohne Rechte, ohne Sicherheiten, ohne festen Arbeitsplatz. Und der liebende Vater weist seine Bitte nicht zurück. Mehr noch: kein einziger Vorwurf, keine „Probezeit"! „Hauptsache, du bist wieder da, Bub!" - genauso, wie wenn nie etwas vorgefallen wäre!

Jetzt zeigt sich, wie richtig das Verhalten des Vaters war. Nie hätte der Kerl etwas dazugelernt, hätte ihn der Vater mit Gewalt zurückgehalten. Nie hätte er diese Erfahrungen machen können, hätte er brav die Vorstellungen des Vaters verwirklicht. Nie hätte er dankbar zu schätzen gelernt, was er an seinem Vater hat.

Der andere, „anständige" Sohn, der brav bei seinem Vater geblieben ist, macht das deutlich: er ist immer noch eine kleinliche Beamtenseele, der seinen Anteil am Erbe vor lauter Knickrigkeit nicht einmal angerührt hat, ein erbarmungsloser, undankbarer und liebloser Mensch, der sich nicht am Glück seines Vaters und am „Wiederaufleben" seines Bruders freuen kann. Ein armseliger Mensch!

Liebe Eltern!

Diese Geschichte ist ein Modellfall. Mehr oder weniger bleibt auch Ihnen nicht erspart, was hier erzählt wird: Ihr Sohn, Ihre Tochter gehen nun immer mehr ihre eigenen Wege. Die Versuchung, den „Rhabarbereffekt" - bei verheirateten Kindern auch „Schwiegermuttereffekt" genannt - anzuwenden, das heißt: die eigenen Vorstellungen aufzuzwingen, die eigenen Denkschablonen zu projizieren, diese Versuchung wird immer da sein. „Ich mein‘s Dir ja nur gut!", und: „das ist der Dank dafür, wo ich mich doch ein Leben lang für dich aufgeopfert habe" - diese Gedanken werden sich immer wieder mal aufdrängen. Der „Gute Vater" im Gleichnis lehrt uns da etwas anderes. Liebe, und zwar selbstlose, echte Liebe heißt:

- den anderen seinen Weg gehen zu lassen
- den anderen zu akzeptieren, auch wenn er „keinen Rhabarber mag"
- keinen Druck und keine Erpressung - auch keine noch so sublime - anzuwenden
und vor allem:
- keine Erwartungen zu hegen, sondern dafür offen zu bleiben, wie der andere in Wirklichkeit ist.

Ihnen, liebe Eltern, wünsche ich zu diesem Lernprozeß viel Erfolg.

Und euch, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, wünsche ich, daß ihr euren, ganz individuellen Weg geht, und zugleich: daß ihr nicht viele Sackgassen braucht, nicht viele „Hungersnöte in fremdem Land", keine „Saufutterschoten", um Verantwortung, Selbständigkeit und Dankbarkeit zu lernen. Was ich den Eltern gesagt habe, gilt auch für euch; denkt auch ihr daran: nicht nicht jeder mag Rhabarber!

AMEN

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