4,42 Einmal kam ein Mann von Baal-Schalischa und brachte dem Gottesmann Brot von Erstlingsfrüchten, zwanzig Gerstenbrote, und frische Körner in einem Beutel. Elischa befahl seinem Diener: Gib es den Leuten zu essen! 43 Doch dieser sagte: Wie soll ich das hundert Männern vorsetzen? Elischa aber sagte: Gib es den Leuten zu essen! Denn so spricht der Herr: Man wird essen und noch übriglassen. 44 Nun setzte er es ihnen vor; und sie aßen und ließen noch übrig, wie der Herr gesagt hatte.
6:1 Danach ging Jesus an das andere Ufer des Sees von Galiläa, der auch See von Tiberias heißt. 2 Eine große Menschenmenge folgte ihm, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat. 3 Jesus stieg auf den Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern nieder. 4 Das Pascha, das Fest der Juden, war nahe. 5 Als Jesus aufblickte und sah, daß so viele Menschen zu ihm kamen, fragte er Philippus: Wo sollen wir Brot kaufen, damit diese Leute zu essen haben? 6 Das sagte er aber nur, um ihn auf die Probe zu stellen; denn er selbst wußte, was er tun wollte. 7 Philippus antwortete ihm: Brot für zweihundert Denare reicht nicht aus, wenn jeder von ihnen auch nur ein kleines Stück bekommen soll. 8 Einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus, sagte zu ihm: 9 Hier ist ein kleiner Junge, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; doch was ist das für so viele! 10 Jesus sagte: Laßt die Leute sich setzen! Es gab dort nämlich viel Gras. Da setzten sie sich; es waren etwa fünftausend Männer. 11 Dann nahm Jesus die Brote, sprach das Dankgebet und teilte an die Leute aus, soviel sie wollten; ebenso machte er es mit den Fischen. 12 Als die Menge satt war, sagte er zu seinen Jüngern: Sammelt die übriggebliebenen Brotstücke, damit nichts verdirbt. 13 Sie sammelten und füllten zwölf Körbe mit den Stücken, die von den fünf Gerstenbroten nach dem Essen übrig waren. 14 Als die Menschen das Zeichen sahen, das er getan hatte, sagten sie: Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll. 15 Da erkannte Jesus, daß sie kommen würden, um ihn in ihre Gewalt zu bringen und zum König zu machen. Daher zog er sich wieder auf den Berg zurück, er allein.
Liebe Christen!
Wenn man die Lesung und das Evangelium von heute unmittelbar hintereinander liest, dann kann man nicht umhin, verwundert den Kopf zu schütteln, kritisches Bewußtsein vorausgesetzt. Elischa, einer der großen Propheten des Alten Testaments, sättigt mit zwanzig Gerstenbroten hundert Männer, und - es bleibt noch etwas übrig. Jesus dagegen hat nur fünf Gerstenbrote und zwei Fische zur Verfügung, sättigt aber damit fünftausend Männer (nach orientalischer Gepflogenheit werden Frauen und Kinder gar nicht mitgezählt), und - übrig bleiben geschlagene zwölf Körbe!
Was Johannes deutlich machen möchte, springt förmlich ins Auge: Jesus ist viel mehr als der größte Wundertäter neben Mose, nämlich der Prophet Elischa!
Wieder einmal wird deutlich, was ich immer wieder betone: die Evangelisten (und vor allem das Johannesevangelium, das ja rund 70 Jahre nach der Auferstehung geschrieben wurde) beschreiben nicht historische Begebenheiten, sondern machen Theologie", wollen also die Bedeutung Jesu herausstellen.
Wir dürfen also nicht unsere modernen Denkschablonen anlegen, die bei allen Erzählungen sofort fragen: Ist das wirklich so passiert". Wir müssen gleichsam in die Haut des antiken Schriftstellers und seiner Zuhörer schlüpfen, um zu erfahren, was die Geschichte wirklich meint. Schauen wir uns zunächst die Einzelheiten an:
Jesus hat anscheinend das Bedürfnis, sich vor den Menschen zurückzuziehen; zunächst einmal, um sich erholen zu können, dann sicher auch, um auch einmal mit den Jüngern allein sprechen zu können, und - wie es öfters erwähnt wird - um mit Gott allein zu sein. So fährt er mit dem Boot von Kapharnaum aus quer über den Galiläischen See, sozusagen um die Leute abzuhängen. Aber das funktioniert nicht so recht; die Leute beobachten, welche Richtung das Boot einschlägt, und eilen auf dem Landweg um die Spitze des Sees herum. Der Jordan fließt von Norden her in den See Genezaret. Drei Kilometer weiter flußaufwärts befand sich eine Furt, in deren Nähe ein Dorf mit dem Namen Betsaida Julias befand (im Unterschied zu Betsaida in Galiläa). Dorthin wollte Jesus anscheinend. Ganz in der Nähe dieses Ortes befindet sich eine grasbewachsene Ebene mit Namen El-Batiyah. Dort wird sich dann abspielen, wovon das Evangelium erzählt.
Es heißt, daß das Osterfest vor der Tür stand; das erklärt, warum zu dieser Zeit besonders viele Menschen unterwegs waren. Viele Pilger aus Galiläa benutzten die genannte Furt durch den Jordan, um auf die andere Seite zu kommen. Der Grund: sie vermieden auf diese Weise das Gebiet der verhaßten und gefährlichen Samariter. Ich vermute nun, daß die begeisterte Menge, die auf dem Landweg so schnell wie möglich zu Jesus kommen wollte, auf Gruppen solcher Festpilger stieß; und anscheinend sind die gleich mitgelaufen, um Jesus zu hören.
Der Anblick der Riesenmenge erregt das Mitgefühl Jesu. Die Leute waren hungrig und müde und brauchten etwas zu essen. Es war ganz natürlich, daß sich Jesus an Philippus wandte, der ja aus Betsaida stammte und daher ortskundig war. Aber Philippus ist ein Realist: um eine solche Menge mit Essen versorgen zu können, braucht man mindestens 200 Silbergroschen, also Denare (ein Denar ist der Durchschnittslohn eines Tagelöhners). Nach der Berechnung des Philippus war also der Arbeitslohn von mehr als sechs Monaten erforderlich, um all diese Menschen versorgen zu können.
Da mischt sich Andreas ein, der einen Jungen mit fünf Gerstenbroten und zwei kleinen Fischen entdeckt hatte, vermutlich dessen Mittagessen. Allzuviel hatte der Kleine nicht zu bieten: Gerstenbrot war das billigste Brot und ziemlich gering geschätzt. Gerste wurde als Viehfutter betrachtet, und Brot aus Gerste war das Brot der Armen. Zum Fisch ist zu sagen, daß eingelegte Fische aus Galiläa im ganzen Römischen Reich wohlbekannt waren. Frischfisch galt damals als unerhörter Luxus, da es keinerlei Transportmöglichkeiten gab, um die Fische auch auf größere Entfernung frischzuhalten. Zwei solcher eingelegter Fische hatte also der Bub mit dabei.
Jesus nimmt Brot und Fisch und spricht wie ein jüdischer Familienvater den üblichen Segen ("das Dankgebet", wie es heißt) darüber: "Dank sei dir, o Herr, der du Brot aus der Erde wachsen läßt."
Die Leute aßen und wurden satt - das griechische Wort chortazesthai wird eigentlich für das Viehfüttern verwendet; auf Menschen übertragen, bedeutet es, daß alle übersatt, übervoll waren - etwa dem bayrischen vollgefressen" entsprechend.
Wieso aber muß Jesus Reste einsammeln lassen? Können die Kerle denn nicht ordentlich aufessen?
Bei den Juden war es Brauch und Sitte, bei Festessen immer etwas für die Diener übrig zu lassen. Was zu diesem Zweck übrigblieb, nannte man peach; zweifellos hatten die Menschen auch hier die übliche Menge für die zurückgelassen, die ihnen das Mahl gereicht hatten.
Diese Reste füllten zwölf Körbe. Wo kommen nun diese Körbe plötzlich her?
Kein Jude reiste ohne seinen kophinos, seinen flaschenförmigen Reisekorb. Der römische Dichter Juvenal erwähnt die Körbe der Juden und ihre Heubündel, die als Lagerstatt dienten, zweimal in seinen Werken. Einer der Gründe für dieses merkwürdige Utensil war der, daß nur so die jüdischen Speisevorschriften eingehalten werden konnten, indem jeder sein koscheres Essen selber mit sich trug.
So interessant all diese Einzelheiten sein mögen - für den Evangelisten kommt es, wie gesagt, auf etwas viel Wichtigeres an. Die Anspielungen an die Eucharistiefeier, die Speisung vieler Menschen mit dem Brot des Lebens, sind unübersehbar.
Natürlich ist es wichtig, daß jeder Mensch sein Auskommen, seine Nahrung hat - und wir sollen wie die Jünger dafür sorgen. Aber nach Johannes geht es Jesus nicht primär um die Erfüllung körperlicher Bedürfnisse. Jesus sagt einmal: "Ich habe eine Speise, die ihr nicht kennt" und "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein". Was meint er damit?
Genauso lebensnotwendig wie Nahrung für den Körper ist der Lebenssinn für unsere Seele. Der Wiener Psychotherapeut Viktor Frankl hält die Sinnleere, den Mangel an Sinn sogar für die ärgste Krankheit unserer Zeit - und viele (auch körperliche) Erkrankungen haben hier ihren Ursprung. Das Heil-Mittel, das uns Jesus schenken will - wenn wir es annehmen - ist DER Sinn schlechthin: es ist die Verbindung mit Gott, und damit mit Leben, Liebe und Erfüllung. Das materielle Stückchen Brot, das damals die Leute bekamen und das wir heute bei der Kommunion gereicht bekommen, ist sozusagen nur der sichtbare Teil; das Entscheidende aber ist nicht mit den Sinnesorganen wahrzunehmen: die lebens- und sinnspendende Verbindung mit Gott.
Jetzt wird auch klar, was Brotvermehrung" für den Evangelisten bedeutet: Wenn wir, die Jünger, dies einmal erfaßt haben, wenn wir gefunden haben, was uns seelisch bereichert, satt macht", dann werden wir zu Multiplikatoren. Dann stecken wir auch andere mit unserer Be-Geisterung an, Menschen, die nach Sinn hungern, die noch nicht erlöst, befreit sind - und ermöglichen auch ihnen ein erfülltes, sinn-sattes Leben.
Solche Wunder haben die meisten von uns schon erlebt: wenn deprimierte, mutlose Menschen von uns mit neuer Hoffnung weggegangen sind, wenn Leute, die ganz auseinander" waren, nach einem Gespräch wieder gut beisammen" waren. So etwas ist wirklich ein Wunder, denn nie können wir darüber verfügen, ob unsere Bemühungen" beim anderen auch ankommen, und vor allem: immer bleibt etwas übrig, das einen selbst bereichert und bestärkt.
AMEN
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