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13. Jahressonntag

Thema: Mädchen, stehe auf!
Lesg./Ev.: Mk 5,21-24.35b-43
für das Internet erstellt am 01.07.2000
von Eberhard Gottsmann, OStR

Evangelium (Mk 5,21-24.35b-43)

21 Jesus fuhr im Boot wieder ans andere Ufer hinüber, und eine große Menschenmenge versammelte sich um ihn. Während er noch am See war, 22 kam ein Synagogenvorsteher namens Jaïrus zu ihm. Als er Jesus sah, fiel er ihm zu Füßen 23 und flehte ihn um Hilfe an; er sagte: Meine Tochter liegt im Sterben. Komm und leg ihr die Hände auf, damit sie wieder gesund wird und am Leben bleibt. 24 Da ging Jesus mit ihm. Viele Menschen folgten ihm und drängten sich um ihn.35b Unterwegs kamen Leute, die zum Haus des Synagogenvorstehers gehörten, und sagten (zu Jaïrus): Deine Tochter ist gestorben. Warum bemühst du den Meister noch länger? 36 Jesus, der diese Worte gehört hatte, sagte zu dem Synagogenvorsteher: Sei ohne Furcht; glaube nur! 37 Und er ließ keinen mitkommen außer Petrus, Jakobus und Johannes, den Bruder des Jakobus. 38 Sie gingen zum Haus des Synagogenvorstehers. Als Jesus den Lärm bemerkte und hörte, wie die Leute laut weinten und jammerten, 39 trat er ein und sagte zu ihnen: Warum schreit und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur. 40 Da lachten sie ihn aus. Er aber schickte alle hinaus und nahm außer seinen Begleitern nur die Eltern mit in den Raum, in dem das Kind lag. 41 Er faßte das Kind an der Hand und sagte zu ihm: Talita kum!, das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf! 42 Sofort stand das Mädchen auf und ging umher. Es war zwölf Jahre alt. Die Leute gerieten außer sich vor Entsetzen. 43 Doch er schärfte ihnen ein, niemand dürfe etwas davon erfahren; dann sagte er, man solle dem Mädchen etwas zu essen geben.

Predigt

Liebe Christen!

Diese rührende Geschichte, die wir gerade gehört haben, geht allzuleicht an unseren Ohren vorbei. Wie so oft, muß man sich erst einmal in die damalige Zeit hineinversetzen, um den Gehalt der Erzählung so richtig erfassen zu können.

Ein zwölfjähriges Mädchen lag im Sterben. Für uns war sie ein Kind; nach jüdischer Anschauung war sie aber erwachsen, in heiratsfähigem Alter, wenn sie zwölf Jahre und einen Tag alt war. Das hat damit zu tun, daß Orientalinnen sehr viel schneller reifen als Mädchen unseres Kulturkreises; dafür altern sie auch wesentlich rascher. Sonst wird nichts über sie gesagt. Vom Vater allerdings erfahren wir, daß er der Vorsteher einer Synagoge war - also ein hochangesehener Mann, der für den ordnungsgemäßen Verlauf der Gottesdienste bzw. Versammlungen verantwortlich war. Er war zugleich Vorsitzender des Ältestenrates - also Kirchenpfleger und Bürgermeister in einem. Daß dieser Prominente persönlich zu Jesus kommt, der bereits als religiöser Außenseiter galt und der schon aus den Synagogen ausgeschlossen war, zeigt uns zweierlei:

Er vergaß seine Vorurteile gegenüber Jesus. Vorurteil heißt ja: im Voraus ein Urteil fällen, noch ehe man etwas in Augenschein genommen hat. Durch die tödliche Krankheit seiner Tochter angetrieben, geht er zu Jesus, was immer für einen Ruf der auch bei den Leuten hat.

Er vergaß auch seine Würde. Er, der Oberste der Synagoge, wirft sich dem Wanderprediger zu Füßen, gerade im Orient ein Zeichen äußerster Demut. Welch eine Überwindung muß Jairus das gekostet haben, noch dazu vor allen Leuten!

Jesus läßt sich nicht lange bitten. Aber auf dem Weg zum Haus des Jairus wird er durch eine blutflüssige Frau aufgehalten - ich habe diese Stelle heute ausgelassen - und dadurch kommt es, daß das Mädchen inzwischen stirbt. Als sie ankommen, sind bereits die jüdischen Trauerbräuche in vollem Gang.

Für uns, die wir möglichst in Stille und Gefaßtheit um einen Verstorbenen trauern, mutet das Geschehen im Orient geradezu wie ein Theater an.

Sobald nämlich jemand gestorben war, setzte lautes Wehgeschrei ein, damit alle erfuhren, daß der Tod zugepackt hatte. Am Grab dann ging das Geheule und Geschrei wieder los. Man schlug sich an die Brust, zerraufte sich die Haare und zerriß seine Kleider. Auch da gab es genaue Vorschriften: die Kleider wurden von oben bis an die Brust zerrissen, aber niemals über den Nabel hinaus. Starb ein Vater oder eine Mutter, dann wurde die linke, die Herzseite zerrissen, in anderen Fällen die rechte. Frauen dagegen mußten zuerst ihr Untergewand umkehren, sodaß dessen Rückseite nach vorn kam und die Blöße nicht zu sehen war, weil ja das äußere Gewand zerrissen wurde. Dreißig Tage lang mußten die Kleider so getragen werden, erst dann durfte man sie flicken.

Wichtig waren auch die Flötenspieler. In der gesamten Antike gehörte die klagende Flötenmusik und die Trauerklage zusammen. Mindestens zwei Flötenspieler waren vorgeschrieben, die auch der Allerärmste sich leisten mußte. Können Sie sich den Lärm nun ein wenig vorstellen, der im Trauerhaus geherrscht haben muß?

Die Trauernden durften übrigens im Todesfall weder arbeiten, noch Körperpflege betreiben noch Schuhe tragen. Männer mußten den Bart wachsen lassen (genau so die Fingernägel) und Männer wie Frauen durften nicht die Haare scheren. Auch das Gesetz und die Propheten durfte man nicht lesen, weil diese Bücher zu lesen Freude bedeutete; lesen dagegen durfte man das Buch Hiob, den Propheten Jeremia und die Klagelieder. Essen gab es nur zu Hause, und auch da kein Fleisch und keinen Wein; man saß dabei auf dem Boden, den Stuhl als Tisch benützend. Dreißig Tage lang durfte man sein Dorf oder seine Stadt nicht verlassen. Alles Wasser im Trauerhaus und drei Häuser weiter mußte ausgeleert werden, denn man glaubte, daß der Todesengel sein Schwert in unmittelbar zur Hand befindliches Wasser taucht, bevor er zuschlägt.

Auf diesem Hintergrund wird nun der Höhepunkt der Geschichte deutlicher.

Jesus muß sich fast schon gewaltsam Eintritt in das Trauerhaus verschaffen; er schickt alle hinaus, bis auf die Eltern des Kindes und drei seiner besonders vertrauten Apostel. Und was nun geschah, muß dem anwesenden Petrus ein Leben lang unvergeßlich geblieben sein, denn Markus, sein Dolmetscher, hat es in der Muttersprache Jesu überliefert, in Aramäisch. "Talita kumi - Mädchen, steh auf!"

Was nun geschieht, betrifft und berührt uns alle: wenn Jesus zu uns tritt, wenn er uns an der Hand nimmt, wenn er uns anspricht: 'Steh auf!' dann leben wir auf, dann weicht alles, was Tod heißt. Wenn es Jesus nur darum gegangen wäre, einem Mädchen ein paar zusätzliche Erdenjahre zu verschaffen, einem Mädchen, das heute ja doch schon fast zweitausend Jahre vermodert wäre, dann wäre es nicht wert gewesen, so etwas aufzuschreiben. Der Evangelist will, daß wir uns in dieser Geschichte selbst wiederfinden, er will uns etwas Allgemeingültiges sagen: "Wer an Jesus glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt; und jeder, der lebt und an ihn glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben."

Jesus schenkt ein Leben, das in Verbindung mit Gott besteht, eine Verbindung, die keine Macht der Welt, auch nicht der Tod, zerstören kann.

Das ist der Grund, warum sich für uns, die wir an ihn glauben, die anfängliche Trauer um den Verlust eines lieben Menschen in Freude verwandeln kann. Vertrauen wir ihm, dann können wir - wie er - den Tod nicht mehr als Schlußpunkt, als Endgültiges begreifen. Dann „schläft" das Kind nur. Weil also für Jesus die Toten nicht tot sind, so sind sie auch für uns nicht tot. Er gibt uns unsere geliebten Toten zurück, und so können sie in neuer Weise in uns lebendig werden. Dazu aber müssen wir uns von ihm „berühren", „anrühren" lassen, müssen wir uns nach der notwendigen Trauer über den Verlust an ihm festhalten, durch dessen Auferweckung Gott bestätigt hat, daß der Tod nicht Ende, sondern der Beginn eines neuen Lebens ist.

So verstanden ist diese Szene nicht eine zufällige Begebenheit der Vergangenheit, die sich irgendwo vor 2000 Jahren in Palästina abgespielt hat, sondern eine Aufforderung zur Entscheidung: Jesus bietet mir das wahre Leben an; an mir liegt es, ob ich zu seinem Angebot JA sage.

AMEN

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